Loney – Michael Hurley
Erschienen: 09.09.2016 bei Ullstein
Autor/in: Michael Hurley
Klappentext: The Loney – ein verregneter, unwirtlicher Landstrich an der nordenglischen Küste. In der Karwoche des Jahres 1976 pilgert eine brüchige kleine Glaubensgemeinschaft aus London dorthin, um in der Wallfahrtskirche der heiligen Anna für ein Wunder zu beten: möge Hanny, äußerlich schon fast ein Mann, doch von kindlichem Gemüt, von seiner Krankheit erlöst werden. Dreißig Jahre später legt ein Erdrutsch bei The Loney die Leiche eines Babys frei. In Hannys jüngerem Bruder Tonto weckt dies Erinnerungen an jene Reise, die er all die Jahre tief in seinem Inneren verborgen hatte. Doch jetzt drängt die Vergangenheit mit Macht an die Oberfläche und droht, ihm den Boden unter den Füßen wegzureißen. Dieser ungewöhnliche, faszinierende Roman erweckt mit stilistischer Brillanz und einem virtuosen Gespür für Zwischentöne Charaktere und Landschaft zum Leben. Zugleich stellt er grundsätzliche Fragen nach dem Wesen von Glauben und Aberglauben, Vertrauen und Hoffnung.
Loney – Michael Hurley
“Loney” ist der erste Roman von Michael Hurley, ein eigenartig faszinierender, wenn auch recht seltsamer Genremix, der jedoch durchaus eines Blickes wert ist und auch den Autor im Hinterkopf behalten lässt. Über weite Strecken nur Roman , enthält das Buch auch Thriller- bzw. Krimi- und Gothic-Novel-Anteile, leider erst verstärkt gegen Schluss und nicht besonders ausgewogen.
“Loney” ist durchweg düster und eines jener Bücher, welches ausschließlich von der darin vermittelten Stimmungen lebt. Daran könnte auch die Übersetzerin Yasemin Dinçer einen Anteil haben, denn sie ist für die Übersetzung des Buches an die englischen Originalschauplätze im Nordwesten des Landes gereist, um die Atmosphäre in sich aufzunehmen und bei einem persönlichen Treffen mit dem Autor seine Lieblingsplätze in dieser kargen Landschaft aufzusuchen. Darüber gibt es einen sehr wundervollen Reisebericht mit vielen stimmungsvollen Bildern, den ich als ergänzende Lektüre zum Buch interessierten Lesern ans Herz legen möchte.
Im Mittelpunkt des Plots steht die im Klappentext beschriebene Pilgerreise einer kleinen, katholischen Glaubensgemeinschaft, um Hanny von seiner Krankheit zu heilen. Die Krankheit ist nicht näher definiert: Hanny spricht nicht, wirkt auf den Leser allenfalls “seltsam”, aber nicht geistig zurück geblieben. Angeführt wird das kleine Grüppchen von “father”, dem (neuen) Priester der Gemeinschaft, beherrscht allerdings von “mummer”, der bigotten Mutter von Hanny und Tonto. Der alte Priester der Gemeinde ist vor Kurzem verstorben und mummer besteht darauf, die Pilgerreise in allen Details genauso durchzuführen wie unter dem Verstorbenen. Das birgt Konfliktpotential, denn father hat keinerlei Chance, es der Frau rechtmachen zu können, er kannte seinen Vorgänger nicht einmal. Der Plot gleitet über weite (teilweise zu weite) Strecken ab in Beschreibungen über mummers frömmelnden, starrsinnig religiösen Eifer und in völlig sinnlose Konflikte bezüglich irgendwelcher Details, die für die Handlung nicht nötig sind. Die entsprechenden Dialoge waren für mich als Agnostiker sehr langatmig zu lesen, mag sein, dass es gläubigen Menschen anders geht. Es war mir ein wenig “too much” Religion.
Lesetechnisch war es auch absolut nicht hilfreich, mummers Mann als “farther” zu betitulieren. Der Leser wird gezwungen, extrem LANGSAM zu lesen, um “father” und “farther” z.B. in Gruppendialogen auch immer eindeutig auseinander halten zu können. Ich gebe zu, dass mich das nervös gemacht hat, mein Wohlfühl-Lesetempo war das nicht.
Ganz anders als die wenig unterhaltenden Beschreibungen und Konflikte der Glaubensgemeinschaft lesen sich die wundervollen Teile des Buches, wo es nur um Hanny und Tonto geht, die karge Landschaft von beiden weiträumig erkundet wird und die Jungen Entdeckungen und Erlebnisse haben, die den Plot letztendlich auf das mystische, gruselige, düstere Ende hin lenken und den Leser bei der Stange halten.
Auf anrührende Weise kommuniziert Hanny auf eine sehr eigene Art mit seinem Bruder Tonto, teilweise unter Zuhilfenahme sehr kreativer und doch verblüffend einfacher Techniken. Diese liebevolle Geschwister-Beziehung, in der Tonto als der Jüngere gegenüber seinem Bruder ein für einen Jugendlichen in diesem Alter überdimensional großes Verantwortungsbewusstsein entwickelt hat, ist sensibel, glaubwürdig und wirklich großartig beschrieben. Während mummer ihren Erstgeborenen als Mensch nicht so annehmen kann, wie er ist und göttliche Hilfe zur “Heilung” starrsinnig erzwingen will, ist Hanny für seinen Bruder Tonto ein völlig normaler Mensch.
Das Ende ist weder befriedigend noch schlüssig, zu viel bleibt unerklärt, zu vieles wird so nebulös beschrieben, dass der Leser, selbst wenn er sich etwas zusammen reimen wollte, nicht kann, manches wirkt so krude, dass die Fantasie schlichtweg versagt. Nichtsdestotrotz hat Michael Hurley einen faszinierenden Schreibstil.
Einige Nebenplots, wie zum Beispiel die eher philosophisch als religiös anmutenden Kapitel zum verstorbenen Priester bleiben ein wenig in der Luft hängen. Ich habe Religion und Philosophie im Verhältnis zu den grundsätzlichen Fragen nach dem Wesen von Glauben und Aberglauben, Vertrauen und Hoffnung in diesem Buch nicht auf eine für mich überdenkenswerte Basis bekommen, das wirkte alles sehr “splitterig”.
Gefragt habe ich mich auch, warum aus Hanny schlussendlich ein VERHEIRATETER Priester geworden ist, die Glaubensgemeinschaft ist eine katholische.
Fazit: Für differenzierende Leser, bei denen nicht unbedingt der Gesamteindruck stimmig sein muss, sondern die auch von einzelnen Leseeindrücken profitieren können, ist “Loney” absolut empfehlenswert. Im Vordergrund standen für mich die perfekt vermittelten Stimmungen und Gefühle bezüglich der Landschaft und einzelner, zwischenmenschlicher Beziehungen. Hurley sollte man im Auge behalten.
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